Karl Marx hinterließ uns die Einsicht, dass Geschichte sich
wiederholt. Zuerst hüllt sie sich in das Gewand der Tragödie, beim zweiten Mal
erscheint sie als Farce. Angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise kann man
sich fragen, ob Marx nicht unrecht hatte – denn auch Wiederholungen haben
durchaus das Zeug zur Tragödie.
Der historische Präzedenzfall – Deutschlands unilaterale
Anerkennung Kroatiens und Sloweniens im Jahre 1991 unter der Federführung
Genschers. Die historische Wiederholung – Angela Merkels Entscheidung Anfang
September, ohne ausreichende außenpolitische und innenpolitische Abstimmung
hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland jetzt und wohl auch in Zukunft
willkommen zu heißen.
Beiden Entscheidungen ist gemein, dass man annehmen kann,
dass sie durchaus mit den besten Absichten gefällt wurden, ganz im Sinne der
Überzeugungsethik. Finstere Verdächtigungen, von verdeckt faschistischen
Präferenzen Deutschlands für Kroatien oder purem ökonomischen Interesse eines
geburtenschwachen Deutschlands an menschlichen Ressourcen lassen sich mit
ziemlicher Sicherheit von der Hand weisen.
Was sich nicht von der Hand weisen lässt, ist die Tatsache,
dass beide Entscheidungen im besten Falle waghalsig waren: Sie schafften nicht
mehr rückgängig zu machende Tatsachen, mit fatalen Folgen für ein politisches
System.
„Niemand kann mir
weismachen, dass die Großzügigkeit der Deutschen ohne Hintergedanken ist – Sie
wollen uns schlicht schlechtes Gewissen machen.“
Cartoon des Canard Enchaîné vom 15. September 2015
Während Angela Merkel und ihre Regierung unter wachsenden
innenpolitischem Druck gerät und unter anderem per Anlegen von Daumenschrauben
auf ein gemeinsames Schultern der Flüchtlings-Lasten im Rahmen der EU pocht,
fällt die Zurückhaltung von Paris auf. Wie auch schon im Falle des
unilateralen, innenpolitisch-taktisch motivierten Atomausstiegs post-Fukushima
hat Merkel die Franzosen schlicht vor vollendete Tatsachen gestellt - egal, wie
problematisch die Konsequenzen für den französischen Partner auch sein mögen.
Deutschland:
Gefühl der Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen und Hoffnung für die Zukunft
überwiegt
Wie eine IFOP Studie,
die vom französischen Institut Jean Jaurès (nahe der sozialistischen Partei)
diesen September in Auftrag gegeben und im Oktober wiederholt wurde,
deutlich macht, könnten die innenpolitischen Reaktionen Frankreichs und
Deutschlands auf die Flüchtlingskrise nicht gegensätzlicher sein. Während
Deutschland sich weiterhin verpflichtet fühlt, Flüchtlinge aufzunehmen und
trotz enormer zu erwartender Schwierigkeiten dies stemmen zu können meint,
überwiegt in Frankreich die Angst vor einer Welle von Einwanderern und den
gesellschaftlichen Folgen von Migration.
Frankreich:
Fürchtet jetzige und kommende Migration und ihre Auswirkung auf den sozialen
Zusammenhalt
So wirkte der gemeinsame historische Auftritt Angela Merkels
und François Hollandes am 7. Oktober vor dem Europäischen Parlament, auf den
Spuren Kohls und Mitterrands 26 Jahre vor ihnen nach dem Fall der Mauer,
seltsam blass. Zwar sollte deutsch-französische Solidarität signalisiert
werden, doch die unterschiedlichen Positionen, was Syrien und die
Flüchtlingsfrage betrifft, ließen sich nicht verbergen. Zudem musste sich
Hollande auch von Marine Le Pen als deutschen Vize-Kanzler, Verwalter der
Provinz Frankreichs bezeichnen lassen. Das deutsch-französische Tandem erschien
in
Ermangelung einer eigenen Europastrategie Frankreichs einmal mehr
als Feigenblatt deutscher Vormachtstellung.
Wie Hans Stark vom Institut Français des Relations
Internationales, IFRI (Interview 14.
September 2015, France Culture) herausstreicht, stellen Flüchtlinge,
zumindest bis vor kurzem, für viele deutsche politische Verantwortliche ein
humanitäres Problem temporärer Natur dar. Flüchtlinge sollen zeitlich begrenzt
aufgenommen werden, administrative und finanzielle Ressourcen geraten zwar
unter Druck, sind aber prinzipiell vorhanden. Laut der oben erwähnten IFOP Jean
Jaurès sehen das die Bürger Deutschlands, sowie Frankreichs ganz anders: Sie
gehen mehrheitlich davon aus, dass Flüchtlinge, die die EU bereits erreicht
haben und die, die noch kommen werden, in ihrer großen Mehrheit in Europa
bleiben werden. Und die Mehrheit aller Befragten gibt an, dass sie es vorziehen
würden, wenn alle Flüchtlinge wieder nach Hause zurückkehrten.
Frage: Ihrer
Meinung nach, werden aufgenommene Flüchtlinge...ihr Leben hier einrichten
(rot)...in ihr Herkunftsland zurückkehren (blau) ?
Für die Franzosen, sowie auch für andere EU Mitgliedstaaten,
so wie Großbritannien, die Niederlande oder Dänemark, ganz zu schweigen von den
mittel- und osteuropäischen Staaten, stellt der Zustrom von Flüchtlingen im
Kern ein Souveränitätsproblem dar. Das Analyseraster vor dem Hintergrund
erstarkender Parteien des extrem rechten Spektrums ist Globalisierung und deren
Auswirkung auf Innenpolitik und soziale Kohäsion, hier im Gewand der Migration.
Der Zeithorizont ist nicht ein paar Jahre, sondern die nächsten Jahrzehnte. Im
Gegenteil zu Deutschland halten diese an der Vision des Nationalstaates, der
seine Grenzen verteidigen kann und will, fest – mag diese zeitgemäß sein oder
nicht.
Frage: Wünschen
Sie sich, dass aufgenommene und aufzunehmende Flüchtlinge...nach dem Verbleib
von einigen Monaten und Jahren in ihr Land zurückkehren (rot)...oder hier
bleiben (blau)?
Fakt ist, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in momentanen
Ausmaßen keine strikt humanitäre Politik darstellt, sondern de facto
Einwanderungspolitik ist, deren Folgen
auch mit enormen Einsatz von finanziellen Mitteln und forderndem Engagement,
was Integration betrifft, nicht absehbar sind*. Nur betreffen diese
aber aufgrund des gemeinsamen Binnenmarktes nicht nur Deutschland, sondern alle
EU Mitgliedsstaaten.
Einmal ganz davon abgesehen, welche Alternativen zur
aktuellen deutschen Politik bestanden und bestehen - die Migrationsfrage hat
alles Zeug dazu, der gemeinsamen Währung den Rang als innereuropäischen
Zankapfel abzulaufen. Zur Nord-Süd Spaltung, die dem Dauereurodrama geschuldet
sind, gesellt sich nun ein neuer Ost-West-Konflikt zum Thema Migration,
verstärkt noch durch die terroristischen Anschläge, die Paris erschüttert
haben. Einmal mehr zeigt sich, dass Deutschland gerade die Dinge, die es
eigentlich im Rahmen der Europäischen Union bewahren möchte – Europa, Einheit –
gefährdet. Und dass Frankreich in Ermangelung einer eigenen Europastrategie
auch in dieser Frage zwischen den Stühlen sitzt.
* hierzu eine interessante Studie des deutschen Ökonoms
Daniel Stelter, der gerade mit seinem Buch “Die Schulden im 21. Jahrhundert,”
einer Kritik von Thomas Pikettys “Das Kapital im 21. Jahrhundert“ in
Deutschland für Aufsehen sorgt.