Donnerstag, 3. Dezember 2015

Flucht nach vorn ins Ungewisse – Deutschland, Frankreich und die Flüchtlingsfrage von Johanna Möhring

Karl Marx hinterließ uns die Einsicht, dass Geschichte sich wiederholt. Zuerst hüllt sie sich in das Gewand der Tragödie, beim zweiten Mal erscheint sie als Farce. Angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise kann man sich fragen, ob Marx nicht unrecht hatte – denn auch Wiederholungen haben durchaus das Zeug zur Tragödie.

Der historische Präzedenzfall – Deutschlands unilaterale Anerkennung Kroatiens und Sloweniens im Jahre 1991 unter der Federführung Genschers. Die historische Wiederholung – Angela Merkels Entscheidung Anfang September, ohne ausreichende außenpolitische und innenpolitische Abstimmung hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland jetzt und wohl auch in Zukunft willkommen zu heißen.

Beiden Entscheidungen ist gemein, dass man annehmen kann, dass sie durchaus mit den besten Absichten gefällt wurden, ganz im Sinne der Überzeugungsethik. Finstere Verdächtigungen, von verdeckt faschistischen Präferenzen Deutschlands für Kroatien oder purem ökonomischen Interesse eines geburtenschwachen Deutschlands an menschlichen Ressourcen lassen sich mit ziemlicher Sicherheit von der Hand weisen.

Was sich nicht von der Hand weisen lässt, ist die Tatsache, dass beide Entscheidungen im besten Falle waghalsig waren: Sie schafften nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen, mit fatalen Folgen für ein politisches System.


„Niemand kann mir weismachen, dass die Großzügigkeit der Deutschen ohne Hintergedanken ist – Sie wollen uns schlicht schlechtes Gewissen machen.“

Cartoon des Canard Enchaîné vom 15. September 2015

Während Angela Merkel und ihre Regierung unter wachsenden innenpolitischem Druck gerät und unter anderem per Anlegen von Daumenschrauben auf ein gemeinsames Schultern der Flüchtlings-Lasten im Rahmen der EU pocht, fällt die Zurückhaltung von Paris auf. Wie auch schon im Falle des unilateralen, innenpolitisch-taktisch motivierten Atomausstiegs post-Fukushima hat Merkel die Franzosen schlicht vor vollendete Tatsachen gestellt - egal, wie problematisch die Konsequenzen für den französischen Partner auch sein mögen.



Deutschland: Gefühl der Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen und Hoffnung für die Zukunft überwiegt


Wie eine IFOP Studie, die vom französischen Institut Jean Jaurès (nahe der sozialistischen Partei) diesen September in Auftrag gegeben und im Oktober wiederholt wurde, deutlich macht, könnten die innenpolitischen Reaktionen Frankreichs und Deutschlands auf die Flüchtlingskrise nicht gegensätzlicher sein. Während Deutschland sich weiterhin verpflichtet fühlt, Flüchtlinge aufzunehmen und trotz enormer zu erwartender Schwierigkeiten dies stemmen zu können meint, überwiegt in Frankreich die Angst vor einer Welle von Einwanderern und den gesellschaftlichen Folgen von Migration.


Frankreich: Fürchtet jetzige und kommende Migration und ihre Auswirkung auf den sozialen Zusammenhalt

So wirkte der gemeinsame historische Auftritt Angela Merkels und François Hollandes am 7. Oktober vor dem Europäischen Parlament, auf den Spuren Kohls und Mitterrands 26 Jahre vor ihnen nach dem Fall der Mauer, seltsam blass. Zwar sollte deutsch-französische Solidarität signalisiert werden, doch die unterschiedlichen Positionen, was Syrien und die Flüchtlingsfrage betrifft, ließen sich nicht verbergen. Zudem musste sich Hollande auch von Marine Le Pen als deutschen Vize-Kanzler, Verwalter der Provinz Frankreichs bezeichnen lassen. Das deutsch-französische Tandem erschien in Ermangelung einer eigenen Europastrategie Frankreichs einmal mehr als Feigenblatt deutscher Vormachtstellung.

Wie Hans Stark vom Institut Français des Relations Internationales, IFRI (Interview 14. September 2015, France Culture) herausstreicht, stellen Flüchtlinge, zumindest bis vor kurzem, für viele deutsche politische Verantwortliche ein humanitäres Problem temporärer Natur dar. Flüchtlinge sollen zeitlich begrenzt aufgenommen werden, administrative und finanzielle Ressourcen geraten zwar unter Druck, sind aber prinzipiell vorhanden. Laut der oben erwähnten IFOP Jean Jaurès sehen das die Bürger Deutschlands, sowie Frankreichs ganz anders: Sie gehen mehrheitlich davon aus, dass Flüchtlinge, die die EU bereits erreicht haben und die, die noch kommen werden, in ihrer großen Mehrheit in Europa bleiben werden. Und die Mehrheit aller Befragten gibt an, dass sie es vorziehen würden, wenn alle Flüchtlinge wieder nach Hause zurückkehrten.


Frage: Ihrer Meinung nach, werden aufgenommene Flüchtlinge...ihr Leben hier einrichten (rot)...in ihr Herkunftsland zurückkehren (blau) ?

Für die Franzosen, sowie auch für andere EU Mitgliedstaaten, so wie Großbritannien, die Niederlande oder Dänemark, ganz zu schweigen von den mittel- und osteuropäischen Staaten, stellt der Zustrom von Flüchtlingen im Kern ein Souveränitätsproblem dar. Das Analyseraster vor dem Hintergrund erstarkender Parteien des extrem rechten Spektrums ist Globalisierung und deren Auswirkung auf Innenpolitik und soziale Kohäsion, hier im Gewand der Migration. Der Zeithorizont ist nicht ein paar Jahre, sondern die nächsten Jahrzehnte. Im Gegenteil zu Deutschland halten diese an der Vision des Nationalstaates, der seine Grenzen verteidigen kann und will, fest – mag diese zeitgemäß sein oder nicht.




Frage: Wünschen Sie sich, dass aufgenommene und aufzunehmende Flüchtlinge...nach dem Verbleib von einigen Monaten und Jahren in ihr Land zurückkehren (rot)...oder hier bleiben (blau)?

Fakt ist, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in momentanen Ausmaßen keine strikt humanitäre Politik darstellt, sondern de facto Einwanderungspolitik ist, deren Folgen auch mit enormen Einsatz von finanziellen Mitteln und forderndem Engagement, was Integration betrifft, nicht absehbar sind*. Nur betreffen diese aber aufgrund des gemeinsamen Binnenmarktes nicht nur Deutschland, sondern alle EU Mitgliedsstaaten.

Einmal ganz davon abgesehen, welche Alternativen zur aktuellen deutschen Politik bestanden und bestehen - die Migrationsfrage hat alles Zeug dazu, der gemeinsamen Währung den Rang als innereuropäischen Zankapfel abzulaufen. Zur Nord-Süd Spaltung, die dem Dauereurodrama geschuldet sind, gesellt sich nun ein neuer Ost-West-Konflikt zum Thema Migration, verstärkt noch durch die terroristischen Anschläge, die Paris erschüttert haben. Einmal mehr zeigt sich, dass Deutschland gerade die Dinge, die es eigentlich im Rahmen der Europäischen Union bewahren möchte – Europa, Einheit – gefährdet. Und dass Frankreich in Ermangelung einer eigenen Europastrategie auch in dieser Frage zwischen den Stühlen sitzt.



* hierzu eine interessante Studie des deutschen Ökonoms Daniel Stelter, der gerade mit seinem Buch “Die Schulden im 21. Jahrhundert,” einer Kritik von Thomas Pikettys “Das Kapital im 21. Jahrhundert“ in Deutschland für Aufsehen sorgt.

Mittwoch, 19. August 2015

Frankreich oder die Leere im Herzen Europas Von Johanna Möhring


Die sommerliche Aufregung um den Fast-Grexit kaum überstanden  – jedenfalls für den Moment, denn wie jeder Action-Kassenschlager wird es sicher ein, zwei Fortsetzungen geben – können sich die leicht erschöpften politischen Klassen Europas schon auf den nächsten spannungsreichen Politthriller freuen : « Brexit »  - bald in einem Kino in Ihrer Nähe.

(c) Bundesregierung
Zwischen Großbritannien und Deutschland – Was ist französische Europapolitik ?

Hier gibt es in der Tat wenig Zeit, Atem zu schöpfen. Laut Premierminister David Cameron soll das Referendum über die Zugehörigkeit Großbritanniens zur Europäischen Union schon vor Ende 2016 über die Bühne gehen. Verhandlungen, deren Ausgang die 16-20 Prozent noch Unentschiedenen überzeugen sollen, für ein Bleiben in der EU zu stimmen, sind im Gange : Hochrangige britische Politiker bereisen auf der Suche nach europäischen Mehrheiten für Politik-  oder gar Vertragsmodifikationen kreuz und quer das Festland. Ende Juli war George Osborne, der britische Finanzminister für die Sache werbend in Paris. Dort pries er die Gunst der Stunde – endlich ergäbe sich die Möglichkeit, eine Debatte über Reformen zu führen, die die EU „wettbewerbsfähiger und dynamischer gestalten, und damit für Wohlstand und Sicherheit für alle sorgen könnte.“

„Grexit“, „Brexit“, solch intra-europäische Turbulenzen haben zumindest den Vorteil, wie das besagte Feigenblatt (ob nun griechisch oder nicht), das Fehlen einer genuin französischen Europapolitik zu kaschieren. In entgegensetzte, jeweils unerwünschte Richtungen gezerrt, wirken französische Politikverantwortliche wie gelähmt. Auf der einen Seite Großbritannien mit seinem Wunsch nach Rückführung von Kompetenzen auf nationale Ebene. Dies birgt für Frankreich die Gefahr, seine politische Landschaft in Aufruhr zu versetzen, da es Wasser auf den Mühlen der Souveränisten, der Front National oder all derer Mitbürger ist, die 2005 mit „nein“ gegen den Europäischen Verfassungsvertrag stimmten, wenngleich auch aus diversen Gründen. Auf der anderen Seite dräut Deutschland, welches auf geschickte Weise Frankreichs Angst vor einer deutsch-britischen Allianz ausnutzt, um mehr Integration der Eurozone, besonders im Bereich Budgetkontrolle, durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund erscheint die von den Franzosen favorisierte Taktik des „weder noch“ - weder Neuverhandlungen, noch ein Mehr an Integration - schlicht kein gangbarer Weg.


 „Grexit, Brexit, Frexit“ - das törnt Marine Le Pen an
Zeichung von Monsieur Kak, April 2015

Nach Jahrzehnten der Dominanz des europäischen Projekts, nach französischem Abbild geschaffen, französischen Interessen dienend, befindet sich Frankreich momentan in einer Position der Schwäche. Dies ist zum einen Ironie der Geschichte. Das europäische Institutionenkorsett, mit seinem Herzstück, der gemeinsamen Währung, wurde eigens konzipiert, um ein Deutschland zu bändigen, das, wenn nicht als gefährlich, so doch wenigstens als beunruhigend galt. Nun hat gerade dieses Konstrukt zu einer signifikanten Machtsteigerung Deutschlands innerhalb der EU geführt, besonders seit der seit 2009 andauernden Eurokrise.

Aber der fehlende Einfluss Frankreichs ist auch einem Mangel an strategischer Reflexion über die EU geschuldet. Seit dem Maastrichter Vertrag und der in das Referendum mündenden Kampagne für den europäischen Verfassungsvertrag im Jahre 2005 herrscht in etablierten Parteien, der Presse, in Universitäten und an Forschungsinstituten fast völlige intellektuelle Stille, was Europa betrifft. „Es gibt keine Alternative zum aktuellen Projekt“ - neben Deutschland umfängt dieser Slogan Frankreich wie eine Zwangsjacke.

Doch die jetzige Situation wirft Fragen auf – hier nur einige davon. Was sind die Interessen Frankreichs, die durch seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union gefördert werden ? Wie bedient sich Frankreich der EU und wie will sie sie in Zukunft nutzen ? Entsprechen das Institutionengefüge und die Politiken der EU den Bedürfnissen Frankreichs und den Erwartungen seiner Bürger ? Gibt sich Frankreich damit zufrieden, neben einem ökonomisch und politisch stärker werdenden Deutschland die zweite Geige zu spielen ? Und wenn es sich entscheiden müsste, wo würde sich Frankreich verorten – wirtschaftlich, finanzpolitisch, politisch und kulturell gesehen – eher in einem Europa „des Nordens“ oder in einem Europa „des Südens“ ?

Keine dieser Fragen ist leicht zu beantworten. Aber alle, und andere, verdienten es, gestellt und debattiert zu werden. Die tektonischen Platten der EU verschieben sich – nur wer selbst in Bewegung bleibt, geht nicht Gefahr, das Gleichgewicht verlieren.


Donnerstag, 9. April 2015

Adieu “realitätsbasierte Politik”? von Johanna Möhring


Im Westen nichts Neues. Trotz des Debakels der Kantonalwahlen diesen März  – 26 ehemals sozialistische “Départements” fielen an die Rechte, der “Front National” konnte seine Territorialstrategie weiter ausbauen* – ist in Frankreich links kein Kurswechsel in Sicht.

Im Juni steht der sozialistische Parteikongress in Poitiers an, der die Weichen für die Präsidentschaftswahlen 2017 stellen soll. Und eine breite Mehrheit der sozialistischen Partei wünscht sich nichts mehr, als unangenehme Themen unter den Teppich zu kehren.

Nach nur knapp zwei Jahren ist also die Zeit der unter den Sozialisten begonnenen Reformen offiziell vorbei. Die Zeichen stehen nun ganz auf Neuformierung der “majorité plurielle”, dem Sammeln linker Kräfte, was sich vor Präsidentschaftswahlen turnusmäßig abspielt – und meist den gesunden Menschenverstand strapaziert.

Debakel – UMP hält 66 “Départements” von 101, Wahlbeteiligung unter 50 Prozent
(Graphik TV5)

Die wenig mobilisierenden “Départementales” – Wahlen eines Binoms Mann-Frau, genaue Zuständigkeiten mangels rechtlicher Grundlage zum Wahlzeitpunkt unbekannt – mögen kein überzeugender Indikator für die politische Gemengelage der französischen Nation sein. Sie fügen sich aber in einen beunruhigenden Trend ein, der seit Jahren anhält und an dem auch die „Marche Républicaine“ des 11. Januar nicht viel ändern konnte:  Während sich die Mehrheit der Franzosen gelangweilt von der Politik abwendet, sagt eine stetig wachsende Minderheit den etablierten Parteien den Kampf an. Diese 'Sans-culottes' der Postmoderne sehen sich als Opfer ökonomischen Wettbewerbs, sie verurteilen die schon seit Jahrzehnten andauernde Lähmung des politischen Systems, sie prangern eine angenommene moralische und kulturelle Beliebigkeit an. 

Marine-Jeanne soll es richten
„Das Volk zuerst“ (Photo vom 01.05.2013, Le Figaro)

Nicht wenige EU-Bürger haben ein ambivalentes Verhältnis zur Globalisierung und ihrem europäischen Ableger, dessen Herzstück der gemeinsame Binnenmarkt ist. Was nicht weiter verwunderlich ist, Dani Rodriks „Trilemma“, nach dem sich Demokratie, nationale Selbstbestimmung  und wirtschaftliche Globalisierung partout nicht unter einen Hut bringen lassen,  lässt grüßen.

In Frankreich ist die Situation besonders vertrackt. Denn laut Laurent Cohen-Tanugi, der in seinem gerade veröffentlichen Buch What's wrong with France? Frankreich dazu aufruft, sich von Kopf bis Fuß neu zu erfinden, greift die Globalisierung die eigentliche Identität Frankreichs an. Sie untergräbt den Sockel französischer Exzellenz: Zentralität eines starken Staates mit intellektueller und kultureller Strahlkraft, und einer homogenen Gesellschaft, die auf dessen demokratische Institutionen vertraut.


Offenbar so einiges

Wettbewerb wird in Frankreich, egal, ob rechts oder links, meist nicht als Chance, sondern als Gefahr für nationale Besonderheiten gesehen. Es gilt, sich zu erinnern: das europäische Projekt selbst war immer ein Kompromiss diametral entgegengesetzter Anliegen, zwischen dem protektionistischen Instinkt der Franzosen (Stichwort gemeinsame Agrarpolitik) und dem Streben der Deutschen nach einem Export-Markt.

Wie reagieren traditionelle politische Akteure auf den Diskurs der Globalisierungsverlierer? Mit Worten statt Taten. Links wie rechts liebäugelt man in ganz Europa mit populistischen Argumenten, um beim Wähler Anklang zu finden. Oder man schwingt zu Abschreckungszwecken gerne auch mal die Totalitarismus-Keule. Unklar ist jedoch für alle politischen Großfamilien, ob sie die stetig zunehmende Zahl potentieller Protestwähler überhaupt noch erreichen können.

Denn populistische Kräfte argumentieren und agieren nicht nur längst außerhalb des klassischen politischen Ideenwettbewerbs. Sie stehen zudem stolz zu ihrer Ablehnung von “realitätsbasierter Politik”. Fakten? Sind relativ. Medien? Gekauft. Demokratische Institutionen? Alle korrumpiert. Außerhalb der Konventionen unseres demokratischen Lebens bleibt jedoch nichts als Emotion. Auf diese Herausforderung müssen nicht nur etablierte Parteien eine Antwort finden. 


* Zwar konnte der „Front National“ aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts kein „Département“ erringen. Doch gelang es ihm, die Zahl ihrer Repräsentanten in den „conseils généraux“ (gewählte Versammlung auf Departementsebene) zu versechzigfachen. Damit scheint die Strategie von Marine Le Pen, ihre Partei lokal zu verankern, um sich so eine langfristige Machtbasis zu schaffen, aufzugehen: Die Wähler der 11 Kommunen, in denen der FN seit März 2014 einen Bürgermeister stellen, mobilisierten sich anlässlich der „Départementales“ stark für den „Front National“.

Dienstag, 10. März 2015

Frankreich – Bindestrich der Europäischen Union ? Von Johanna Möhring




 “Wir sind alle Griechen” - Wirklich?
(Solidaritätskundgebung mit Griechenland aus dem Jahr 2012, Photo Reuters)

Nach dem Ausgang der Parlamentswahlen in Griechenland vom 25. Januar 2015 frohlocken die linken Kräfte Europas. So auch in Frankreich: Endlich wird Europa das Joch der von Deutschland aufgezwungenen Austeritätspolitik abschütteln. Endlich werden staatliche Investitionsprogramme das Wachstum ankurbeln. Und endlich wird Frankreich bei der Gestaltung der Europapolitik wieder eine Führungsrolle einnehmen!

Michel Sapin, französischer Finanzminister, lud Anfang Februar seinen griechischen Kollegen Yanis Varoufakis nach Paris und sprach ihm seine Unterstützung zu. Frankreich müsste ein Bindegliedsfunktion zwischen griechischen und europäischen Anliegen einnehmen. Am  darauffolgenden Mittwoch, den 04. Februar, empfing François Hollande den frischgekührten Ministerpräsidenten Alexis Tsipras mit allen Ehren im Elysée Palast. Der französische Präsident erinnerte an europäische Regeln und Verpflichtungen, zeigte sich aber bereit, ganz wie François Mitterrand seinerzeit mit Andreas Papandreou, die Griechen bei der Suche nach einer europäischen Lösung der griechischen Schuldenfrage zu unterstützen.

...Zum Anstecken

Doch kann Frankreich aktuell tatsächlich eine alternative Position in der EU einnehmen? Dagegen spricht allerhand: Der gemeinsame Kurs der EU in Sachen Wirtschafts- und Währungsunion, die aktuelle französische Wirtschaftspolitik, und nicht zuletzt die Selbstwahrnehmung Frankreichs als führendes Land Europas. Zusammengenommen eine enorme Menge an investiertem politischem Kapital, das man getrost als „sunk costs“, versunkene Kosten, bezeichnen kann.

Hinsichtlich seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik ist Frankreich fest in die kommunautäre Architektur einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik eingebunden. Diese schließt ein radikales Umschwenken, was Frankreichs Staatsausgaben betrifft, schlicht aus. Zwar hat unser Nachbar von Brüssel gerade Ende Februar zwei Jahre Aufschub erhalten, um seinen Haushalt in Ordnung zu bringen. Jedoch sind dieses Jahr vier Milliarden EUR Einsparungen fällig. Das Geld, das Griechenland via diversen Rettungsmaßnahmen schuldet, schuldet es auch dem französischen Steuerzahler – um die 40 Milliarden EUR. Nicht gerade eine Kleinigkeit, selbst wenn die französische Libération den zu erwartenden Verlust klein redet (Tenor – Staatsschulden würden sowieso nie zurückgezahlt. Na dann...).

...auch an den Hut?

Zum zweiten hat sich Frankreich nach langem Ringen 2013 für eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik entschieden. Im Wettlauf mit der Zeit (eine breite Mehrheit der sozialistischen Partei sträubt sich sowohl gegen Reformen als auch gegen Budgetdisziplin) soll durch Liberalisierung der Wirtschaft und durch unternehmerfreundliche Maßnahmen Wirtschaftswachstum erzeugt werden. Leider im wahrsten Sinn antizyklisch: Daheim und in den europäischen Nachbarländern geraten solche Vorhaben zunehmend in parlamentarische und außerparlamentarische Kritik.

Was den dritten Punkt, eine alternative französische Europapolitik, betrifft - Es sei einmal dahingestellt, ob Frankreich sich tatsächlich zum Wortführer der Austeritätsgeplagten, der „südlichen Länder“ der EU machen möchte. Wäre das nicht ein Abstieg, vom deutsch-französischen Tandem, dem sogenannten „Motor Europas“ in die zweite Liga der Euro-Müden und -Lahmen?

Weiterhin in Mode?


Bis jetzt sind also Frankreichs Positionen zur neuen Regierung in Griechenland eher taktischer Natur. Im Spagat zwischen Wahlvolk, Parteibasis,  „Loi Macron“ und „Six Pack“  liebäugelt man schon mal mit „Podemos“ oder „Syriza“, mögen solche Posen auch zuweilen olympiareife gymnastische Züge annehmen.  Ein radikaler Kurswechsel steht nicht bevor. 2015 wird jedoch mit Wahlen in Spanien und Portugal sicher für Gesprächsstoff sorgen. In einem solchen Klima der Spannungen treten bislang versteckte Ambivalenzen in der Vordergrund, zum Beispiel, was das Verhältnis zur EU und seinem Herzstück, dem gemeinsame Binnenmarkt betrifft. Doch davon in einem nächsten Blog-Post...

Montag, 19. Januar 2015

Das Paris-Syndrom. Von Johanna Möhring

"Paris, c'est le monde ; le reste de la terre n'en est que les faubourgs." 
(Marivaux, La Meprise, 1734)
(“Paris, das ist die Welt. Der Rest der Welt ist nur seine Vorstadt”)

Nach den blutigen Anschlägen des 7., 8. und 9. Januar steht Paris im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie kann die Stadt des Lichts, und mit ihr Frankreich, mit dem Terror fertig werden? 
„Fluctuat, nec mergitur“
(Place de la Nation, 11. Januar 2015, Photo Martin Argyroglo)
Schon seit römischen Zeiten gleitet Frankreichs Hauptstadt, deren Wappen ein Schiff ziert, über den Strom der Zeit. Unter dem schönen Motto “Fluctuat, nec mergitur”, von den Wogen der Geschichte hin- und hergeworfen, geht es doch nicht unter. Baron Haussmann ließ im vorletzten Jahrhundert radikal das Stadtbild vereinheitlichen, auch mit dem Hintergedanken, die periodisch aufrührerische Stadtbevölkerung durch breite, aufmarschfähige Avenuen unter Kontrolle zu halten. Dass auf ihnen 150 Jahre später friedlich, den Ordnungskräften applaudierend, mehr als 1,5 Millionen Bürger für Meinungsfreiheit und republikanische Einheit demonstrieren würden, hätte er sich sicher nicht träumen lassen.  

Es ist kein Zufall, dass das meistreproduzierte Photo der „Marche Républicaine“ vom 11. Januar 2015 ein Echo Pariser Stadtgeschichte ist. Denn Paris lebt wie keine andere Stadt im kollektiven Unterbewusstsein als eine Reihe von Bildern aus der Vergangenheit - fast so, als hätte es nicht das Recht, sich zu verändern. Doch wird dieser oft nostalgische, rückwärtsgewandte Blick dem jetzigen Paris und seinen Bewohnern gerecht? Französisches Leben findet heute woanders als in Postkartenmotivik statt, in relativ unspektakulären Vierteln, oder in den unbekannten und ungeliebten, gar gefürchteten Vorstädten. 
„Jeden Tag Sonntag“ (Photos Manolo Mylonas)
Regine Robin, Soziologin, Historikerin und eifrige Stadt-Wanderin, hat es mit ihrem Buch, “Le Mal de Paris” (frei übersetzt als Das Paris-Syndrom) auf den Punkt gebracht. Die französische Hauptstadt lebt in der Verweigerung ihrer selbst. Sie ist, wenn man einmal die Ringstraße, den ehemaligen Stadtwall, diesen Keuschheitsgürtel, wie Robin ihn nennt, verlässt, keine Metropole mit 3 Millionen, sondern eine Megapole von 10 Millionen Einwohnern. Für diese gelebte Realität gibt es aber keinerlei Repräsentation - der starre Blick auf vergangenen Glanz verhindert ihr Entstehen. Doch ohne neues Selbstbild kein politisches, zukunftsgerichtetes Handeln. 

Es drängt sich dem Beobachter der Gedanke auf, dass nicht nur Paris, sondern ganz Frankreich am Paris-Syndrom leiden könnte. Nach den Attentaten ist jedoch klar: Frankreich muss sich seinen Herausforderungen – der Schaffung von wirtschaftlicher Dynamik, von Innovation (auch institutioneller Natur) und von sozialem Zusammenhalt – ohne weiteres Zögern stellen. Paris und seine „banlieue“ stellen die Landkarte der sozialen, ethnischen, religiösen und kulturellen Bau- und Bruchstellen, die die französische Gesellschaft durchziehen.
„Ich bin Charlie, Jude, Bulle – Ich bin die Republik“ (Photo David Ramos (Getty))


Was in Paris geschieht, ist jedoch nicht nur ausschlaggebend für Frankreich. Nach den schockierenden Ereignissen der 2. Januarwoche ist das Land einmal mehr Brennpunkt des Weltgeschehens – hier kann sich in der Tat, wie in einer Tribune der New York Times geschrieben, das Schicksal Europas entscheiden. Wie soll es also nach der „Marche Républicaine“ weitergehen? Ein Land, das traditionell mit sich im Zwist liegt, hat mit feierlichem Erstaunen ein „Wir-Gefühl“ entdeckt. Über alle politischen und sozialen Gegensätze hinweg steht eine breite Mehrheit bereit, um am Projekt der Republik, seit 1789 im Bau, stolz Hand anzulegen. 

Freitag, 17. Oktober 2014

Flagge zeigen – Frankreich, Deutschland und die EU in der Ukrainekrise. Von Johanna Möhring

Frankreichs Haushaltstorturen und sein Duell mit Brüssel lassen sie leicht in Vergessenheit geraten: Die seit Februar andauernde Krise in der Ukraine, und ein Ende ist nicht abzusehen. Die Ingredienzien dieses Konflikts - Nationalismus, Territorialansprüche, sowie diametral unterschiedliche Lesarten gemeinsamer Geschichte - sind der Alptraum, der der Idee eines geeinten Europas einst institutionelle Wirklichkeit verlieh. Doch was ist die Strategie der Europäischen Union und der beiden Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland in diesem Konflikt? 
Prinzipien kosten Geld - 180 Millionen Euro stehen zur Entschädigung europäischer landwirtschaftlicher Unternehmen bereit
Zuerst einmal ein paar gute Nachrichten: Entgegen russischen Kalküls hat es bis jetzt keinen Bürgerkrieg in der Ukraine gegeben, der das Land entlang ethnischer oder linguistischer Trennlinien auseinander reißt. Und zum zweiten ist es Putin nicht gelungen, die EU-Mitgliedsstaaten auseinander zu dividieren. Trotz innenpolitischer Proteste von ganz links bis ganz rechts (hier ein kleiner Blick auf die „Putinversteher“ in Deutschland und in Frankreich) gibt es eine gemeinsame Front der großen europäischen Regierungen gegen Russlands Politik, wenn nicht der Expansion, dann doch der exklusiven Einflusssphären. 

„Macht Europa statt Krieg“ – heißer Tipp aus Frankreich an die Konfliktparteien, gesehen in Pariser Strassen anlässlich der diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament
Nun zu den schlechten Nachrichten: Kriegerische Auseinandersetzungen in der Ostukraine dauern an und fordern weiter Opfer, trotz des Anfang September ausgehandelten Waffenstillstands. Ob ein von Frankreich und Deutschland gemeinsam geplanter OSZE-Einsatz von Drohnen vor Ort Abhilfe schaffen kann, ist fraglich. Eines ist jedoch klar: Russland hat die EU und ihre Mitgliedstaaten mit seiner Strategie der Kriegsführung, die geschickt Medienmanipulation, Militärmanöver und ökonomischen Druck mischt, schlicht überrumpelt. Es gelingt ihm zudem, sich als nicht-liberale, nicht-islamisierte und nicht-westlich korrumpierte Alternative zum „dekadenten“ Westen zu präsentieren (Zitat „Gayrope“). Und die Gegensanktionen, die Russland gegen Europa verhängt hat, beißen doch ein wenig

Matrjoschkas haben es in sich
Was sagt die Ukrainekrise über das Verhältnis von Frankreich und Deutschland zueinander und zu Russland aus? Zuerst einmal fällt auf, dass Deutschland im Dossier Ukraine im Vordergrund steht. Zwar wird Frankreich als gewichtige Stimme in den internationalen Beziehungen geflissentlich in die diplomatische Arbeit einbezogen, ebenso wie wichtige Nachbarländer, aber den Ton gibt Berlin an. Fast so, als würde es in der europäischen Nachbarschaftspolitik eine geographische Arbeitsteilung geben – der Osten für Deutschland, der Süden für Frankreich. 

Beiden Ländern ist klar, dass das Verhältnis zu Russland neu definiert werden muss. Nur wie? Beide haben ökonomische Interessen, die neben dem Wunsch nach Stabilität auf dem europäischem Kontinent außenpolitisches Verhalten beeinflussen. Deutschland ist wirtschaftlich wesentlich stärker mit Russland verknüpft als Frankreich, doch es scheint bereit, Kosten zu tragen, wenn sie auch manchmal recht symbolisch ausfallen. 

Nach langem Zögern, gedrängt von Freunden und Alliierten, hat sich auch Frankreich Anfang September zu einem aussagekräftigen Schritt durchgerungen – Lieferstopp der berühmten „Mistral“, Hubschrauberträger der französischen Marine an Russland, 2010 von Präsident Sarkozy bewilligt und für 1,2 Milliarden EUR 2011 in Auftrag gegeben. Kurioserweise nahmen aber schon am 13. September russische Mannschaften vor Ort  ihr Training auf hoher See wieder auf... Verrückte Welt. 
Die Last der Vergangenheit, via The Economist
Und die Europäische Union in dem Ganzen? Mehr als 20 Jahre ist es her, dass Europa schon einmal anlässlich der Kriege im ehemaligen Jugoslawien mit Dämonen ringen musste, die auf europäischem Boden längst gebannt schienen. Von damals bleiben vor allem drei Dinge im Gedächtnis: Die Machtlosigkeit europäischer und internationaler Institutionen, die nichtkoordinierten Vorgehensweisen einzelner EU-Staaten und letztendlich die Notwendigkeit amerikanischen Eingreifens, um die Konfliktparteien zu Kompromissen zu zwingen. 

Seit den Bürgerkriegen des ehemaligen Jugoslawiens ist einiges geschehen, sollte man meinen: Vertrag auf Vertrag wurden Kompetenzen im Bereich gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik in Richtung EU verlagert. Doch heute wie damals wird deutlich: Weder die Europäische Union, noch die einzelnen Mitgliedstaaten haben bei kritischen Dossiers wirklich überzeugende Handlungsoptionen vorzuweisen. 
Die Wettervorhersage : Regnerisch - bedeckt halten
Ironischerweise ist das Europa der Verteidigung ein weiteres, prominentes Opfer der Krise in der Ukraine. Alle noch vorhandenen Kräfte (im Falle der Bundeswehr ohnehin schon schwer dezimiert, doch auch bei den Franzosen kracht es im Gebälk) konzentrieren sich nach den Erfahrungen der letzten Monate auf das Nordatlantische Bündnis. „Reassurance“, das Beruhigen der Allianzpartner durch gemeinsame Manöver, u.ä. ist in aller Munde. 

Wenn es hart auf hart kommt, übernimmt also weiterhin die USA eine Art Generalverantwortung in Europa. Doch sollten wir uns nichts vormachen – die Welt außerhalb europäischer Landesgrenzen ist bestens in der Lage, dies, ebenso wie unsere reichlich desolate wirtschaftliche Lage zu durchschauen. Und es ist eher unwahrscheinlich, dass die Geschichte uns weitere 25 behütete, unbehelligte Jahre zuteilen wird. Da heißt es, sich warm anziehen: Willkommen in der Welt der Machtpolitik.

Dienstag, 2. September 2014

Der Preis der Sozialdemokratie - Eine „Rentrée quitte ou double“ für François Hollande. Von Johanna Möhring

Die Ferien sind vorbei, „c'est la rentrée“, ab heute heißt es für Millionen französischer Kinder wieder die Schulbank drücken. Die politische Welt hatte ihre „Rentrée“ schon letzte Woche, und das mit gleich mehreren Paukenschlägen – die Regierung Valls fiel am 25. August, bedingt durch die Rücktritte Arnaud Montebourgs, Wirtschaftsminister und Benoît Hamons, Bildungsminister, die die Regierungspolitik in Wirtschaftsfragen nicht mehr mittragen wollten. Indem der Präsident Manuel Valls erneut mit der Regierungsbildung beauftragte, machte François Hollande vor allem eins deutlich - er will an seiner Angebotspolitik  festhalten, gegen allen Widerstand aus eigenen Reihen.  
C'est la rentrée - doch dieses Jahr gibt es für François Hollande wenig zu lächeln
Symbolisiert wurde der offene Bruch mit dem linken Flügel der Parlamentsmehrheit zum einen durch den Auftritt Valls auf der Sommeruniversität der Arbeitgeber am 27. August, auf der dieser für den „pacte de responsabilité“ warb. Ebenfalls ein rotes Tuch: die Nominierung von Emmanuel Macron, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär des Elysee-Palasts und Vertrauter Hollandes zum Wirtschaftsminister. Kein Wunder –  hat doch Macron unter anderem in jungen Jahren bei der Bank Rothschild Fortune gemacht

François Hollande setzt vor dem Hintergrund von Rekordarbeitslosigkeit (3,398 Millionen Arbeitssuchende waren es im Hexagon im August 2014) und nichtexistentem Wirtschaftswachstum „quitte ou double“ auf eine sozial-liberale Wende. Das ist nicht ohne Risiko: Mit etwas gutem Willen lassen sich die potentiell für links stimmenden Wähler auf 40 – 45 % der französischen Wahlberechtigten beziffern, 30% entfallen hiervon auf die Sozialisten. Von diesen unterstützen jedoch nur etwa 15% den Kurs von Manuel Valls. Das ist wenig, zu wenig, um Repräsentatitivät zu beanspruchen. 
Krieg der Linken, titelt die „Libération“ - noch halten die Truppen still
Droht nun der politische Aufstand? Nicht unbedingt – die V. Republik ist so konzipiert, um gegen allen Widerstand die Regierungsfähigkeit der Exekutive zu gewährleisten. Auch haben die sozialistischen, linken und grünen Parlamentarier nicht unbedingt Interesse an vorgezogenen Neuwahlen, da diese immer mit dem Risiko eines Mandatsverlusts einhergehen. Zudem hat man in der sozialistischen Partei den Kongress von 2015 im Blick, auf dem die Weichen für die nächste Präsidentschaftswahl im Jahre 2017 gestellt werden. Es spricht also einiges dafür, dass die „frondeurs“ – die Aufständischen der sozialistischen Partei, die den sozial-liberalen Kurs nicht mittragen möchten – erst einmal stillhalten könnten. 
Der Preis der Agenda 2010 – „Die Linke“
Problematisch sind jedoch die längerfristigen Konsequenzen einer tatsächlichen sozial-liberalen Neuorientierung der sozialistischen Partei – das Zersplittern des gesamten linken Flügels. 

Das Ende der „gauche plurielle“, der pluralistischen Linken jenseits von politischen Grabenkämpfen würde das Ende der einst von Mitterrand auf dem Parteikongress von Epinay 1971 entwickelten Arithmetik für einen linken Wahlsieg bedeuten. Die Erfahrung von Schröders Agenda 2010 sollte Hollande zu denken geben: Die Quittung kam für die deutschen Sozialdemokraten an den Urnen – Von 40,9 % bei den Bundestagswahlen im Jahr 1998 sackten die Genossen bis auf 25-26% Prozent im Jahr 2013 ab. Als Antwort auf die Reformen formierte sich „Die Linke“, auf die seitdem auf Bundesebene zwischen 8-10% der Wählerstimmen entfallen.

So gesehen ist der Einsatz „quitte ou double“ von Hollande ein ziemliches Vabanquespiel. 

Montag, 2. Juni 2014

„Europawahlen – Alles muss sich ändern“ von Johanna Möhring

Was ist die Steigerung einer schallenden Ohrfeige? Das fragen sich politische Beobachter nicht nur in Frankreich nach dem Ausgang der Wahlen zum Europaparlament am vergangenen Sonntag. Dritter Wahlgang der Kommunalwahlen, vorgezogene Präsidentschaftswahlen  – Egal, wie man den Sieg der „Front National (FN)“ etikettieren möchte: Das Wahlergebnis – die FN schnellte von 6,34 %, seinem Europawahlergebnis aus dem Jahr 2009, auf mehr als 25 % als stärkste Partei  –  ist nicht nur für den französischen Präsidenten eine Katastrophe. Das Rekordergebnis von Marine Le Pen und Co., bis jetzt unerreicht in der 30jährigen Geschichte der FN, gleicht laut Innenminister Manuel Valls einem politischen Erdbeben. Es sollte alle Parteien, von den Sozialisten, den Grünen (Europe Ecologie Les Verts), über das Zentrum (UDI-MoDem) bis nach rechts (UMP) zutiefst aufrütteln. 
Viele, (zu) viele Patrioten – mehr als 25% der Wähler stimmten in den Europawahlen für die Front National (zum Vergleich europaweite Ergebnisse rechtsextremer Parteien via The Economist)

Unter Versicherungen des Elysee-Palastes, man werde aus dem Wahlergebnis Lektionen ziehen, kündigte François Hollande am Montag, den 26. Mai  in einer Fernsehansprache erst einmal an, den Kurs seiner Politik beibehalten zu wollen. Was zähle, sei die rasche und konsequente Umsetzung bereits begonnener oder angedachter Reformen, wobei er eine radikale Konsolidierung der Territorialorganisation ankündigte. Nicht Frankreich, sondern Europa müsse sich ändern – mehr Wachstum, mehr Klarheit, mehr Vereinfachung, sowie Rückzug aus Bereichen, in denen es nicht gebraucht würde. Hier konnte ihm David Cameron beim Post-Wahltreffen der Regierungschefs am Dienstag in Brüssel nur beipflichten.
„Europa findet ohne uns statt. Der 25. Mai ohne mich. Lasst uns die Europawahlen boykottieren!“ Mouvement Republicain et Citoyen, Volkssouveränität gegen liberale Globalisierung (gesehen auf Pariser Straßen)
Europawahlen bieten die Möglichkeit, Protest an den Urnen auszudrücken - auf die eine oder andere Art. Nach einem mauen Wahlkampf von etwa 10 Tagen hatten, ähnlich wie schon 2009, 57% der Stimmberechtigten Besseres zu tun, als das neue Europaparlament, und damit gemäß Lissabonner Vertrags zum ersten Mal den zukünftigen Kommissionspräsidenten zu wählen. Selbst europhile Parteien, wie die UDI-MoDem und die Grünen konnten ihre Wähler nicht mobilisieren. Eine deutliche Botschaft, die in Frankreich niemanden wirklich erstaunt. Denn Europa wird in Frankreich nicht geliebt. 

Die Völker hörten nicht die Signale – 
Aufruf zur Europawahl durch die Kommunisten und die Linksfront
(gesehen auf Pariser Straßen)
Die, die abstimmten* taten dies, um eine Europäische Union zu sanktionieren, die sie in Zeiten der Krise nicht schützt. Und um eine politische Elite abzustrafen, die sich seit 30 Jahren scheinbar hauptsächlich damit beschäftigt, ihre eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die Implosion der UMP unter der Last eines weitreichenden Parteienfinanzierungsskandals ist hierfür nur das aktuellste Beispiel

Viele Franzosen erleben die EU als europäischen Arm der Globalisierung, als technokratisches, wirtschaftsliberales Konstrukt: Keine Chance, sondern Bedrohung von Status und Identität. Herumgestossen von Kräften, die weder sie, noch das Politikpersonal auf nationaler oder europäischer Ebene zu kontrollieren scheinen, fühlen sich diese gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr Herr ihres Schicksals. Zumal das französische Bildungssystem im europäischen Vergleich nur schlecht auf den internationalen Wettbewerb vorbereitet.

Was tun? Schon in den 1970ern hatte der französische Soziologe Michel Crozier auf die Gefahren einer „blockierten Gesellschaft“ hingewiesen – bürokratische Rigidität und mangelnde Einbindung der Zivilgesellschaft lähmten das Land. Das Problem ist inzwischen erkannt, doch nicht wirklich gelöst. 
„Dienen, ohne sich anzudienen“
Motto der Kaderschmiede ENA (Ecole Nationale d’Administration)
...Und ohne sich zu bedienen? 

Ebenfalls ungelöst ist die Frage der sozialen Mobilität und damit der Teilhabe an der Macht. Seit den 80ern rekrutieren sich die Studenten von Eliteschulen verstärkt unter den Sprösslingen ihrer Alumni. Das Absolvieren solch einer Schule wie zum Beispiel der Ecole Nationale d’Administration ist bis heute Voraussetzung, um Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft zu ergattern. Ist es Zufall, das sich Korruption seitdem endemisch im System auszubreiten scheint? Nicht nur die Journalistin Sophie Coignard verfolgt seit drei Dekaden, wie Teile der politischen Kaste den Staat als Selbstbedienungsladen nutzen - fast immer, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das traurige Ergebnis kann man zuletzt in ihrem zusammen mit Romain Gubert herausgegebenen Buch „Die Oligarchie der Unfähigen“ nachlesen. 

Natürlich ist nicht alles faul im Staate Frankreich. Die große Mehrheit der Politiker und Beamten dient Frankreich und seinen Bürgern, ohne sich zu bedienen. Brillante junge Diplomanden verlassen Schulen und Universitäten. Unternehmen wollen investieren und erneuern. Doch eine Atmosphäre der Stagnation, während die Welt sich ringsherum rasend schnell zu wandeln scheint, ist greifbar. Hier liegt der Schlüssel zum Wahlerfolg des Front National: Eine Gesellschaft, die sich sowohl gebeutelt, als auch blockiert fühlt, ist idealer Nährboden für politische Kräfte, die demokratische, individuelle Werte niemals wirklich akzeptiert haben. Veränderung, für mehr Teilnahme und Teilhabe, muss jetzt kommen.


*  interessanterweise schnitt die „Front National“ auch außerhalb ihrer traditionellen Bastionen des Südens und Ostens gut ab. Wahlstimmen für die FN kamen zu 43 % von Arbeitern, zu 38 % von Angestellten und zu 37 % von Arbeitslosen.

Montag, 31. März 2014

François Hollande, Sozialdemokratie im Angebot. Von Johanna Möhring

Die 2. Runde der Kommunalwahlen Frankreichs ging am letzten Sonntag über die Bühne, und leider entspricht das Ergebnis den Prognosen politischer Beobachter. Rekorde dort, wo man sie nicht haben möchte: Bei der Stimmenthaltung (fast 38 % der Wähler blieben auch im zweiten Wahlgang den Urnen fern) und, was das Abscheiden der „Front National“ betrifft. 

Die Formation „Rassemblement Bleu Marine“, angeführt von Marine Le Pen und der „Front National“, FN, erzielte in der Tat ein historisches Wahlergebnis. Mehr als zehn mittelgroße Gemeinden wie zum Beispiel Béziers und Fréjus im Süden fielen an sie; Forbach und Perpignan konnten im zweiten Wahlgang schlussendlich nicht gehalten werden. Die FN verstand es geschickt, die Schwächen von Links (unpopuläre Regierungspolitik) und Rechts (diverse Skandale) auszunutzen. Seit ein Teil der politisch konservativen Kräfte Frankreichs beständig versucht, sich selbst rechts zu überholen, gewinnt die Partei zudem mehr und mehr an Salonfähigkeit. 

Die etablierte Rechte konnte trotz internen Zwistes auf Landesebene deutlich an Boden gewinnen. Für die Sozialisten sind diese Kommunalwahlen lokal wie national eine Katastrophe: 142 Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern wechselten das politische Lager, Paris muss neben Avignon als einziges Trostpflaster herhalten. Die Regierung Ayrault gerät immer mehr in Bedrängnis. Im September diesen Jahres droht zudem der Verlust der Mehrheit im Senat, da Bürgermeister die Senatoren wählen. 


Kommunalwahlen in Frankreich: Abstrafung an den Urnen

Der Wahlausgang ist vor allem eine saftige Ohrfeige für den französischen Präsidenten. Dabei hatte das Jahr 2014 nicht schlecht angefangen. Mag das Liebesleben François Hollandes auch seine traditionelle Neujahrsansprache überschattet haben, seine Rede, welche neben einer Dynamisierung der französischen Wirtschaft einen “Neustart” Europas um das deutsch-französische Tandem herum ankündigte, erzielte in Frankreich mehr als nur einen Achtungserfolg. Was am 14. Januar vor allem Schlagzeilen machte, war die, zumindest verbale, ideologische Kehrtwende des Präsidenten. Er bekannte sich zur Sozialdemokratie und in Zukunft zu einer “politique de l'offre”, einer Politik der Angebotsunterstützung. 

Konkret: Über die Senkung von Arbeitgeberbeiträgen und Steuern (Gesamtvolumen 30 Milliarden Euro bis 2017, davon 20 Milliarden Steuerkredit Wettbewerbsfähigkeit Arbeitsplatzschaffung, “crédit d’impôt compétitivité emploi,” eingeführt 2012 durch Louis Gallois, dem jetzigen Aufsichtsratsvorsitzenden von PSA Peugeot-Citroën) sollen Firmen dazu angehalten werden, mehr Leute einzustellen und in ihre Ausbildung zu investieren. Im Gegenzug müssen die Gewerkschaften die bittere Pille von 50 Milliarden Euro Einsparungen im öffentlichen Bereich schlucken. Das ganze firmiert unter dem Namen “Pacte de Responsabilité” (Pakt der Verantwortung). 

Wie alles zusammenhängt: Gesehen vom Zeichner Plantu

Aber wie glaubwürdig, oder wie erfolgsversprechend sind solche Bekenntnisse zur Sozialdemokratie? Der “Pacte de Responsabilité” tritt auf der Stelle, da sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften nicht über seine genauen Modalitäten einigen können. Über seine Zielrichtung streiten sich nicht nur Ökonomen. Geht es vor allem um die Schaffung von Arbeitsplätzen, Priorität der Regierung Ayrault? Oder um die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft als Ganzes? 

Ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Hauptstoßrichtung der Politikmaßnahme, so müsste im Niedriglohnbereich angesetzt werden. Laut einer Studie der liberalen Denkfabrik Institut Montaigne ist der Effekt einer radikalen Senkung von Lohnnebenkosten im Umfeld des französischen Mindestlohns noch stärker als geglaubt. Bis zu 800.000 neue Arbeitsplätze ließen sich in wenigen Monaten mit 10 Milliarden Euro Subventionen schaffen, bei aktuell mehr als 3,5 Millionen Arbeitslosen keine Kleinigkeit. Obwohl Schätzungen des Wirtschaftsministeriums bescheidener ausfallen (man geht dort von 300.000 Arbeitsplätzen aus), scheint eines klar: Eine Streuung der Subventionen über alle Gehaltsstufen hinweg ist wenig erfolgsversprechend. Lohnanstieg statt Arbeitsplatzschaffung wären die Folge. 

Doch hier mauern die Arbeitgeber, besonders die Vertreter der mittelständischen Unternehmen, die aufgrund knapper Margen immer mehr in Bedrängnis geraten. Sie fordern ihrerseits begünstigende Maßnahmen, um die „Wertschöpfungsleiter“ erklimmen zu können. Das eigentliche Problem der französischen Wirtschaft sind laut einer Analyse des Finanzunternehmens Natixis vom Januar 2014 nämlich nicht vorrangig die Lohnnebenkosten, sondern die “falschen” Produkte –   nicht wettbewerbsfähig, da zu niedrig auf der Wertschöpfungskette angesiedelt – und der dysfunktionale Dienstleistungssektor. Statt in der Industrie, die dringend Kapital benötigen würde, um wettbewerbstechnisch an Boden zu gewinnen, landen Investitionen eher im Dienstleistungssektor, der wenig, bis gar keinem Wettbewerb ausgesetzt ist.  


„Das Debakel – Tretet der UMP bei“:  Plakat, geklebt in Pariser Strassen

Man sieht: Der nötige Umbau der französischen Wirtschaft braucht Augenmaß, Konsens und vor allem Zeit – Zeit, die François Hollande davonläuft. Unter dem Druck des politischen Kalenders könnte sich seine Politik des Angebots schnell als Ladenhüter herausstellen.